Alles kann heilen, oder etwa nicht?

Kann jedes Trauma irgendwann heilen? Wenn man nur genügend aufgearbeitet hat, wird man dann gesund?
Die Frage nach Heilung begegnet wohl jeder und jedem Überlebenden irgendwann. Man möchte doch gesund werden. Jede Klinikwebsite verspricht einem, dass das möglich ist. Aber nach vielen Jahren Therapie fragt man sich auch: Hört das denn niemals auf? Ist man irgendwann ganz „frei“?

Niemand würde auf die Idee kommen, zu einem Querschnittsgelähmten zu sagen:
„Ich glaube an Dich! Das wird sicher wieder. Du bist doch so stark, du wirst sicher wieder gesund.“
Und wenn er, der jahrelang gekämpft hat, um sich selbst mit seinem Schicksal abzufinden, dann antwortet:
„Nein, ich werde für immer diesen Rollstuhl brauchen.“
– dann kommt als Antwort: „Das kannst du doch gar nicht wissen! Mit der Einstellung kannst du ja auch nicht gesund werden. Du machst es dir aber sehr bequem in deiner Opferhaltung.“

Ziemlich schmerzhaft, oder?
Aber genau das erleben Menschen, die traumatisiert sind, oft.

 

„Ich glaube an dich“ verleugnet manchmal die Schwere einer Situation

Sätze wie „Ich glaube an dich“ oder „Du schaffst das“ sind meistens gut gemeint, aber sie tun nicht immer gut.
Im „Ich glaube an dich“ steckt so viel „Du musst dich nur anstrengen, dann kannst du es schaffen“.
Und vor allem: „Ich MÖCHTE an dich glauben. Ich halte die Vorstellung nicht aus, dass du es nicht schaffen könntest.“ (Was überhaupt schaffen…?)

Oft hört man Sätze wie: „Ich hoffe, du wirst gesund“ oder „Ich hoffe, dir geht es bald wieder besser“, ohne dass derjenige fragt, wie es einem denn gerade geht. Wenn wir im dunklen Tal sind, und da ist es nunmal einfach dunkel, dann gibt es nur sehr wenige Menschen, die sich zu einem setzen und diese Dunkelheit mit-tragen. Viele möchten einem einen „Lichtstrahl“ schicken. Einen aus dem Loch rausholen. Einem erklären, dass das Loch gar nicht so dunkel ist, es kommt einem nur dunkel vor. Und so weiter.

Dabei ist es oft paradox: Heilung geschieht häufig genau dann, wenn man „aufgibt“. Loslässt. Wenn jemand einfach bei einem ist und da bleibt, statt „Lösungen“ zu suchen.

Hört das denn niemals auf?

Oft höre ich von meinen Klientinnen genau diese Frage, und damit verbunden ist oft eine tiefe Müdigkeit: Hört das denn niemals auf?
Man hat jahrelang Therapie gemacht, sich gut kennengelernt und so viel aufgearbeitet – und dann kommt ein unerwarteter Trigger und haut einen trotzdem völlig um.
Plötzlich ist alles wieder da: die Panik, die schlaflosen Nächte, Erinnerungen, Schmerz und die ewige Frage, wann es denn endlich mal gut ist.
Das ist frustrierend. Und viel zu oft fühlt es sich an wie ein Scheitern. In einer Krise ist man womöglich wieder in alte Verhaltensweisen gerutscht. Obwohl man es doch eigentlich besser wüsste. Und so weiter.
Das „Du kannst gesund werden“ suggeriert häufig, man könnte etwas tun, und dann würden keine Krisen mehr kommen.
Der Wunsch, ganz gesund, heil zu werden, kann Kraft geben – oder Druck erzeugen.

Was Heilung wirklich bedeutet

Im Grunde ist es recht simpel: Wenn man einen Unfall hat, bei dem ein Arm verletzt wird, kommt es beim Thema „Heilung“ auf die Schwere der Verletzung an.

Bei einer Schürfwunde wird alles wieder ganz gesund und irgendwann spielt der Unfall keine Rolle mehr.

Bei etwas tieferen Wunden bleiben Narben zurück. Man kann den Arm wieder bewegen, aber die Narben ziehen manchmal unangenehm und erinnern für immer an diesen Unfall.

Nun, wenn der Arm mehrmals kompliziert gebrochen ist und Sehnen verletzt sind, kann man zwar darauf achten, ihn bei der Heilung zu unterstützen, aber womöglich kann man den Arm nie wieder so stark belasten wie zuvor oder ihn nur noch eingeschränkt bewegen. Womöglich wird es über die Jahre immer besser werden und der Arm wird belastbarer, aber es wird nicht mehr so wie vor dem Unfall.

Und dann gibt es Unfälle, die so schwer sind, dass ein Arm amputiert werden muss oder für immer gelähmt bleibt. Hier gibt es nicht mehr die Möglichkeit, dass irgendetwas „heil“ wird. Man kann nur lernen, damit umzugehen und trotzdem so gut wie möglich damit zu leben. Womöglich wird der andere Arm sehr geschickt und kann Aufgaben übernehmen. Es wird auf jeden Fall immer anstrengend bleiben.

Bei körperlichen Verletzungen ist das so logisch und nachvollziehbar – warum sollte es bei der Psyche anders sein?

Es ist wichtig, ehrlich mit sich zu sein.
Wie groß ist mein Päckchen?
Und natürlich ist die Psyche sehr komplex – es kann Bereiche geben, in denen vieles heilen kann, wirklich besser oder gut werden kann. Aber es gibt häufig auch Bereiche, die immer schwer und anstrengend bleiben.

Heilung ist ein Prozess.
Sie bedeutet für mich in erster Linie, „Ja“ zum Leben zu sagen. Das anzunehmen, was ist.
Seinen Weg weiter zu gehen. Sich selbst immer besser kennenzulernen. Mitfühlender mit sich selbst zu werden.
Heilung geschieht von alleine, wenn wir uns auf diesen Prozess einlassen.

Gleichzeitig finde ich es wichtig, zu den Bereichen, die nie wieder „gut“ werden, zu stehen.
Darum trauern zu dürfen.
Sich nicht dafür rechtfertigen zu müssen.
Und an diesen Stellen keine Hoffnung zu haben!
Manchmal ist gerade das Aufgeben von Hoffnung der Schritt, der das Leid an eine Stelle im Inneren rückt, die es ein bisschen leichter tragbar macht.

Dabei denke ich an ein Gedicht von Ricarda Huch:

Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen
Sich tiefer und tiefer ins Herz hinein,
Und während Tage und Jahre verstreichen,
Werden sie Stein.

Du sprichst und lachst, wie wenn nichts wäre,
Sie scheinen zerronnen wie Schaum.
Doch du spürst ihre lastende Schwere
Bis in den Traum.

Der Frühling kommt wieder mit Wärme und Helle,
Die Welt wird ein Blütenmeer.
Aber in meinem Herzen ist eine Stelle,
Da blüht nichts mehr.

Aus meiner Sicht geht es darum, die Stellen zu sehen, zu pflegen und zu würdigen, an denen neue Blumen wachsen, egal wie hart der Winter war. Aber eben auch die Stellen, an denen nichts mehr wächst. Die einfach nur weh tun. Und die auch da sind und da sein dürfen.